ich bin anders
- Annina Louise Krüttli
- 29. Juli 2021
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Dez. 2021
ich bin anders.
nachdem ich diese tatsache viele jahre abgestritten habe, kann ich es nun endlich laut aussprechen: ich bin anders. es ist befreiend, dies anzuerkennen, aus ganzem herzen zu meinen, was ich sage. und es war nicht leicht, soweit zu kommen.
ich bin in einem ländlichen dorf mit ein paar kirchen, ein paar supermärkten, ein paar schulen und keinem charisma aufgewachsen. mit sieben jahren trat ich in die schule ein und fühlte mich sofort fehl am platz. ich war emotional, intensiv, komplex und hatte starke gefühle, zu allem und jedem. mir waren die dinge nicht einfach egal. ich fühlte mit. mit dem misshandelten hund in der geschichte, die der lehrer in der pause erzählte, mit den kindern, die litten, unter den sticheleien des lauten, extrovertierten, stärksten jungen, anführer der kindergang der exakt gleichen kinder, die er ständig plagte, mit der heldin der abenteuergeschichte, von der meine mutter hoffte, ich würde sie gerne lesen, und allen und allem anderen, einfach so zur sicherheit. diese dinge bedeuteten mir so viel, ich wollte, dass jemand etwas unternimmt, den hund rettet, den anführer zurückpfeift, denen, die hilfe brauchten, hilft und das leiden von menschen und tieren und pflanzen verhindert. ich konnte nicht verstehen, warum ungerechte, ungesunde, rücksichtslose und manchmal schlicht und einfach böse verhaltensweisen und situationen toleriert, sogar gefördert wurden. die kinder in meiner klasse schienen vorzugeben, etwas zu sein, was ich sehen konnte, dass sie nicht waren, schienen zu sagen was sie nicht meinten und nicht zu tun, was sie sagten. alle schienen sich hinter sorgfältig gefertigten fassaden zu verstecken. ich hatte nicht gewusst, dass fassaden wichtig sind, und so sah ich für die anderen langweilig, unordentlich und falsch aus. und alle schienen bei dieser maskerade mitzumachen. ich war komplett verwirrt, ich konnte nicht verstehen, wie niemand die täuschung durchschaute. das einzige, was ich mit sicherheit erkennen konnte, war, dass ich nicht in diese show gehörte, und da ich die einzige war, musste mit mir wohl etwas falsch sein. aus schierer angst, ausgeschlossen zu werden, begann ich, den regeln, nach denen die welt um mich herum funktionierte, aufmerksamkeit zu schenken und sie zu kopieren, in einem verzweifelten versuch, ins bild zu passen.
über die jahre wurde ich besser und besser darin, die unausgesprochenen regeln der menschenwelt zu erfüllen und mich selbst darüber zu verlieren. da ich früh entschieden hatte, dass an meinem wahren ich alles falsch ist, und an allen anderen alles richtig, waren mir alle anderen überlegen und hatten immer recht. ich machte es zu meinem lebensinhalt, allen zu gefallen, und wurde dadurch komplett abhängig von externer bestätigung und anerkennung.
die regeln, die ich über die funktionsweise der menschenwelt lernte, lauteten folgendermassen:
-der höchste wert im leben ist der erfolg, welcher durch das geld auf dem konto oder irgend ein anderes statussymbol gemessen wird
-es ist nicht OK, zufrieden zu sein mit dem, wo man gerade dran ist oder mit dem, was man hat. man muss immer nach mehr, besser, grösser, höher streben
-je mehr macht man hat, desto würdiger ist man
-die fassade ist wichtiger, als das, was dahinter liegt
-es ist OK, eigene interessen über die interessen der gemeinschaft zu stellen, das leiden anderer interessensvertreter kann einfach ignoriert werden
-wenn es kurzfristig etwas zu gewinnen gibt, soll man sich über längerfristige auswirkungen keine sorgen machen
-nicht genau hinschauen, nachhaken oder unangenehme fragen stellen
-immer angenehm und entgegenkommend sein
-man darf andere menschen nicht durch weinen oder das zeigen von gefühlen belasten
-nichts wichtig oder ernst finden, es würde dich verletzlich machen
-immer hart im nehmen sein, feinfühligkeit ist gefährlich
-es ist empfehlenswert, gemeinsame güter auszubeuten oder andere personen für den eigenen aufstieg zu missbrauchen, denn wenn man es nicht tut, wird einem jemand anderes zuvorkommen
-immer so tun, als würde man alle mögen, unabhängig davon, ob dies so ist
-güte und herzlichkeit sind schön und gut, aber nicht vereinbar mit der modernen welt
-kenne immer deinen platz in der gesellschaft und halte dich immer an die sozialen regeln, die für deine gruppe gelten
-alle müssen sich diesen regeln beugen, denn sie sind unwiderruflich
dann kam der tag, an dem mein wahres ich, das ich so viele jahre zuvor versteckt hatte, zurückkam und sich entschied, dass es nicht nach diesen regeln leben wollte. stattdessen horchte ich in mich hinein, deckte meine eigenen wahrheiten auf und entschied mich für eine liste von regeln, die ich innerlich validieren konnte. und endlich wurde ich wieder zu dem, was ich nicht sein sollte. anders.
Comments