als ich klein war, glaubte ich, das leben sei wie eine leiter. ich lernte die schritte auf dieser leiter, und wie man sie erklimmt. weil ich nur ein kind war, machte ich mir keine sorgen darüber, das ende der leiter noch nicht erreicht zu haben, aber ich hatte doch ein deutliches gefühlt, dass es ein ende gibt. dass ich eines tages alle schritte auf der leiter würde erklommen haben, und somit erfolgreich sein würde. meine lehrer und vorgesetzten brachten mir bei, hart zu arbeiten, zu lernen und fortschritte zu machen, einen schritt nach dem anderen, die leiter hinauf. ich hörte oft dinge wie steh deinen mann, härte dich ab, lass dir eine dicke haut wachsen, beiss auf die zähne. alles, um die leiter hinaufzupreschen.
während ich mich so fest ich konnte auf das leben, das am ende der leiter auf mich wartete, konzentrierte, wartete das leben nicht auf mich. das leben passierte. genau jetzt, genau hier. und einen schicksalsschlag nach dem anderen, begann meine leiter auseinanderzufallen. je mehr ich versuchte, mich daran festzuhalten, desto mehr zerfiel sie, bis ich schliesslich herunterstürzte und in einem haufen auf der harten erde landete. weg waren die luftigen höhen, die ich angestrebt hatte, durch meine hände gerutscht wie wolken. als ich da lag und versuchte, die kraft zum aufstehen zu finden, fühlte ich die kühle erde auf meiner haut, das gras an meiner wange. ich wusste es zwar zu diesem zeitpunkt noch nicht, aber was sich wie das ende anfühlte, würde sich später als etwas ganz anderes erweisen.
die welt, in der wir heute aufwachsen und leben, ist herausfordernd. damit meine ich nicht, dass die welt in anderen zeiten nicht herausfordernd war, aber die gegenwärtige westliche, industrialisierte verbraucherkultur stellt eine einzigartige reihe von herausforderungen, mit denen viele menschen probleme haben. wir sind überfordert, fühlen uns hilflos, es wird uns zu viel, wegen all der dinge, die wir haben, all den eindrücken und möglichkeiten, den damit verbundenen verpflichtungen, an denen wir zu ersticken drohen.
unser leben besteht aus druck. wir sind opfer unseres eigenen erfolgs geworden. unsere vermeintlich lineare wirtschaft, welche sich in tat und wahrheit seit ein paar hundert jahren, oder mehr, auf einer exponentiellen wachstumskurve befindet, hat unübersehbar den wendepunkt nach steil oben erreicht, und wir haben mühe mitzuhalten. was uns als leiter verkauft wurde, war nie eine leiter.
und die wachstumskonditionierung ist stark. in der wirtschaft ist sie das einzige, was zählt. wir werden zahllosen botschaften, blinkenden lichtern, bildern, tönen ausgesetzt, die alle, in einem immer kämpferischerem wettrennen um unbegrenztes wachstum in einer welt begrenzter ressourcen, um unsere aufmerksamkeit buhlen. und in ihrem kampf über etwas, was begrenzt ist, werden sie, im verzweifelten versuch, sich gehör zu verschaffen, immer lauter und lauter, und bedrängen uns damit von allen seiten.
da der einzige lebensentwurf, den wir mit auf den weg bekommen haben, eine leiter beinhaltet, ist die einzige reaktion, die wir kennen, uns gegenüber der welt abzuhärten. wir lassen uns die dicke haut wachsen, von der uns erzählt wurde. und fahren deswegen die reize hoch. wir suchen immer extremere erlebnisse und eindrücke, aber fühlen immer weniger.
und dann fällt eines tages die leiter auseinander. es stellt sich heraus, dass das leben wirklich nicht auf uns gewartet hat, sondern die ganze zeit weiterlief. familienmitglieder werden alt oder krank. geliebte menschen sterben. beziehungen brechen auseinander, lösen sich auf oder verwandeln sich in üble bestien, die wir, einmal zum leben erweckt, nicht zu beschwichtigen wissen. stärke fällt in sich zusammen. unternehmungen scheitern. krisen, von sowohl persönlichem, als auch globalem ausmass, ereignen sich. träume zerbrechen und möglichkeiten schwinden in die unerreichbarkeit. sogar die dickste haut vermag uns nicht davon abzuschirmen, innerhalb von millisekunden wird sie runtergerissen und wir stehen nackt und ohne schutz vor unseren überwältigenden gefühlen.
das kind, das wir einmal waren, das, welchem vor so vielen jahren die verlockende leiter vor der nase herumgebaumelt wurde, und das seither zuunterst in unserem herzen versteckt gehalten wurde, weint heisse tränen des schmerzes, sich nach unserer liebe, unserem mitgefühl, unserer unterstützung sehnend. aber statt zu hören, was es flüstert, folgen wir der alten leitergeschichte und sagen ihm, es solle sich abhärten, die fetzen der harten haut auflesen und versuchen, sie zu einem panzer zusammenzustückeln.
wenn wir auf eine andere verletzte seele treffen, bleibt uns als einziger weg, um unser inneres kind zum schweigen zu bringen, jegliche regung unserer gefühle zu unterdrücken, und so sagen wir ihnen, sie sollen sich abhärten, verweigern ihnen, was uns verweigert wurde, und verbreiten so genau das, was uns in unserer harten schale gefangen hält, immer weiter. und so überträgt sie sich, die gefühlslosigkeit, und infiziert eine person nach der anderen.
bis wir uns, nachdem unser leben um uns herum eingestürzt ist, auf der harten, kühlen erde liegend wiederfinden. doch diesmal, anstatt auf die leitergeschichte zurückzufallen, welche mich zu diesem punkt gebracht hatte, zerknittert und staubig, jeder knochen in meinem körper schmerzend, entschied ich mich für mich. ich entschied mich, nicht auf die verzerrte geschichte endlosen emporsteigens zu hören, sondern auf mich. auf mein inneres kind, das sich nichts mehr oder weniger wünschte als verständnis und unterstützung, liebevolle zuwendung. in diesem moment wusste ich, wenn ich nur zuhöre, würde ich immer genau erkennen können, was das bedeutet, wie das aussieht. ich entschied mich fürs in den arm nehmen, wiegen, trösten. zuzulassen, alles zu fühlen, ganz egal wie beängstigend dieses szenario zu sein schien. ich lag da, mich selbst wiegend, zitternd, die schmerzen durch meinen körper jagend. ich anerkannte und validierte meine gefühle, gab ihnen den platz und die aufmerksamkeit, die sie verdienten. ich sah die situation klar, für das was sie war, nicht beurteilend, sondern mit verständnis und mitgefühl. und schliesslich konnte ich mich selbst bei der hand nehmen und langsam aufstehen. was wie das ende ausgesehen hatte, hatte mich die wichtigste lektion von allen gelehrt. gefühle sind, in der tat, fürs fühlen.
sie sind nicht fürs unterdrücken, oder ignorieren. sie sind nicht fürs mit füssen treten oder betäuben. schmerz ist genau das, schmerz. er kommt vom leben selbst, und wenn wir versuchen, ihn zu ersticken, wird er nur grösser. er geht nicht weg, stattdessen schwelt er vor sich hin, um später noch stärker aufzulodern und überzulaufen, und nicht nur uns zu verletzen, sondern auch die menschen um uns herum. der einzige weg, schmerz oder trauer oder enttäuschung oder verlust zu überwinden, ist hindurch. ins kalte wasser zu springen und tief hineinzutauchen. die eigene hand zu halten, für sich selbst da sein, einen sicheren ort zu schaffen, um alles zu fühlen. mein herz zu öffnen, so weit es geht.
lass es dich nicht abhärten. lass es dich aufreissen, spalten, brechen, damit du die hohlräume mit flüssiger schönheit füllen magst. geschmiedet aus mitgefühlt. aus verständnis. aus liebe.
und damit die grösste rebellische tat zu begehen, die es in dieser welt gibt.
liebe.
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