manche leute sagen, träume seien etwas für kinder. ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals ermutigt wurde, tief in meine phantasie einzutauchen und die wundersamen dinge, die ich dort fand, an die oberfläche zu holen. meine phantasie war schon immer ein magischer ort, voller sprechender flüsse und verwunschener wälder und weiser alter frauen, die in hütten aus stein und moos lebten. ich liebte es, in meiner inneren welt herumzuwandeln, und nachts, wenn ich die augen zumachte, liess ich mich an diese weit entfernten orte davontragen, im wissen, dass ich tief fallen, aber sanft auf einem weichen wolkenkissen landen würde.
ich bekam viele phantastische bücher geschenkt und verschlang sie alle, oft konnte ich sie nicht weglegen, bevor ich sie nicht bis zum letzten satz gelesen hatte. damals hatte ich viele träume, träume davon, wie mein leben sein würde, von den welten, von denen ich teil sein wollte. ich verstand damals nicht, was das alles bedeutete, aber in meinen träumen fühlte ich mich zu hause. sie kamen mir sehr real vor, realer als die meisten anderen dinge.
indem ich mich tief in meine vorstellungskraft hineinbegab und innere welten voller leben und liebe erschuf, lernte ich zu träumen. wenn ich meine augen schliesse, reise ich bis heute an orte voller wunder, an orte voller gerüche und geschmäcker und empfindungen und schönheit. und wenn ich mich in einer lauen sommersnacht unter einem himmel voller sterne auf die kühle erde lege, verschwimmen die grenzen und die welten werden eins. der traum wird zur wirklichkeit, die wirklichkeit wird zum traum, ein und dasselbe, ein universum der möglichkeiten.
was ich dort sehe, lässt meine augen funkeln und meine nerven beben. es verursacht gänsehaut, schüttelt meine knochen, bringt meine saiten ins schwingen, berührt mein herz, erhellt meine seele. was ich dort sehe, fühlt sich real an, mehr als real, wahr. es ist die wahrste aller wahrheiten, die wahrste version des lebens selbst.
die augen zu öffnen, hingegen, ist schmerzhaft. ich kehre an einen ort zurück, der mich in meiner jugend auch gelehrt hat, dass träume nur träume sind und deshalb am besten phantasie bleiben sollten. mir wurde gesagt, sie haben keinen platz in dieser welt, die sich realität nennt. mir wurde gesagt, dass diese welt von ihren bewohnern erfordert, dass sie vernünftig und rational sind, dass sie ihren platz in der gesellschaft kennen und sich daran halten. mir wurde gesagt, ich soll mit dem träumen aufhören, aufhören, in den wolken zu leben, endlich klar im kopf werden und mich zusammenreissen. und tun, was man mir sagt. die dinge so sehen, wie sie sind. und mich mit dem arrangieren, was man nicht ändern kann: der realität.
ich versuche darauf zu hören, aber etwas macht mich stutzig. ich bin verwirrt, kann nicht genau sagen, was mich beunruhigt, bis ein gesicht vor meinem inneren auge erscheint, das gesicht einer alten dame. ich kannte sie gut, sie war keineswegs durchschnittlich, und sie überraschte immer wieder. mit 80 jahren besuchte sie einen computerkurs und tauschte von da an e-mails mit freunden und verwandten in aller welt aus. einige zeit später erhielt sie ein handy und lernte, texte und fotos zu verschicken und schliesslich sogar mit video zu telefonieren. mit 85 jahren stieg sie regelmässig in ein flugzeug, um ihre familie zu besuchen. mit 90 jahren lebte sie immer noch in ihrem haus. sie war so intelligent, interessiert und aufgeschlossen wie eh und je. obwohl sie nicht mehr so viel energie hatte, hatte sie bücher, und die bücher, die sie las, waren anspruchsvoll und komplex und brachten sie in die weite welt hinaus. im alter von 18 jahren aber, als sie das gymnasium besucht und ihrer mutter ihre ausgezeichneten noten, das zeugnis und die empfehlungen der lehrer vorgelegt hatte, hatte diese nur geantwortet: "mädchen aus unserer sozialen klasse studieren keine medizin".
ohne die unterstützung ihrer familie hatte sie, so kurz nach dem grossen krieg, keinen weg gesehen, ein studium möglich zu machen. und so hatte sie, statt ärztin zu werden, ihr leben in den dienst ihres mannes, ihrer kinder und enkelkinder gestellt.
sie war meine grossmutter.
sie hat mir diese geschichte nie erzählt, sie hat nie viel über ihr leben vor der familiengründung gesprochen. als sie jung war, taten frauen, was man ihnen sagte. kannten ihren platz. waren höflich und benahmen sich. waren gute mädchen. und es waren nicht nur die frauen, auch männer blieben, wo sie hingehörten: in ihrer sozialen klasse.
wenn ich heute die antwort höre, die sie an jenem tag bekam, fühle ich mich hoffnungslos. ich fühle mich klein. ich fühle mich machtlos. ich fühle mich festgefahren. und ich beginne zu verstehen, warum: sie musste ihre träume aufgeben. obwohl sie sie nie wieder erwähnte, lag immer ein hauch von sehnsucht über ihr. ich werde traurig, wenn ich daran denke, melancholisch. und dann, endlich, wird mir meine verwirrung klar : was ich fühle sind die spuren, die alle aufgegebenen träume hinterlassen, schwache abdrücke, die wie wolkenschwaden weiterleben, wie silberne geister, die an eine alternative zukunft erinnern, die nie ergriffen, aber auch nie vergessen wurde.
ich beginne, ihnen überall zu begegnen. so viele scheinen in sehnsucht zu leben. das allgegenwärtige narrativ hat sich verinnerlicht: träume lassen sich im wirklichen leben nicht verwirklichen, schon gar nicht die grossen. nichts kann sich ändern, man muss sich damit abfinden, also ist es energieverschwendung, einen traum am leben zu erhalten. am besten ist es, ihn aufzugeben. wie kaputte schallplatten laufen diese botschaften in endlosschlaufe in den köpfen vieler menschen.
es ist leicht, ihnen zu glauben, zu schlussfolgern, dass ich keine autorität über mein eigenes leben habe. dass ich keine macht habe. dass ich der dinge, von denen ich träume, nicht würdig bin, dass sie nur in meiner vorstellung existieren. ich darf mich nicht trauen, bleibe lieber in sicherheit. ich habe angst vor der ungewissheit, und vor dem urteil, das mir droht, falls ich versage. ich habe angst vor dem erfolg, weil ich schon lange zum schluss gekommen bin, dass ich das nicht verdiene, und der erfolg würde diesem weltbild von mir widersprechen. ich entscheide mich, dass träume nichts für mich sind, dass ich lieber den status quo beibehalte, denn so weiss ich wenigstens, was ich bekomme, was ich zu erwarten habe, habe alles unter kontrolle. dies sind keine bewussten gedanken, sie spielen sich auf einer tieferen ebene ab, angetrieben durch die erfahrungen von machtlosigkeit, und durch die meinungen anderer. ich fühle mich wie ein opfer der welt, dass mir dinge einfach passieren, dass ich keine macht über mein leben habe. diese gedanken bilden die position, von der ich immer ausgehe: ich reagiere mechanisch, sodass ich ja nicht die kontrolle verliere. den ganzen tag lang werde ich mit problemen bombardiert, die ich lösen, mit pflichten, die ich erfüllen muss, mit glänzenden, funkelnden ablenkungen, die behaupten, der schlüssel zum glück zu sein. auf autopilot weiche ich einer gefahr nach der anderen für mein kontrollgefühl aus, und ergreife möglichst viel von dem, was meinen durst nach vergnügen stillt, tue generell alles was es braucht, um den status quo aufrechtzuerhalten. aber egal, wie sehr ich mich anstrenge, egal, wie perfekt ich diese regeln befolge, die sehnsucht lässt mich nie los. sie ist immer da, in meinem hinterkopf, dieses silbrige flüstern, das mich an eine alternative realität erinnert. sie ist bittersüss, ruft nach mir, singt mich zu ihr. ich ignoriere sie, aber was ich auch tue, sie bleibt bei mir. viele dinge passieren, aber das einzige, was ich über die lippen bringe, ist, dass ich es so gerne tun möchte. ich bin völlig fasziniert und kann nicht aufhören, daran zu denken, aber ich unternehme nichts. wann immer ich von etwas träume, verdünne ich es, bis es dem traum kaum noch ähnelt, und sage mir, dass dies die erfüllung meines traums ist, aber eigentlich bin ich so enttäuscht wie immer. am wochenende versuche ich nachzuholen, was ich verpasst habe, aber die furcht vor dem montagmorgen schleicht sich immer früher ein, bis ich nur noch vor der gegenwart flüchte, weil sie sich im vergleich zu meiner inneren welt so bedeutungslos anfühlt. aber dann, eines tages, gebe ich auf. ich kann so nicht mehr weitermachen. ich habe alles versucht, um die vorgaben der realen welt zu erfüllen, ohne erfolg, und habe mich dabei selbst verloren.
meine träume sind wer ich bin. meine phantasie, meine innere welt, sie sind meine einzigartige identität, das, was mich zu mir selbst macht. und diesmal gebe ich der sehnsucht und den liedern dieser anderen welt nach. träumen ist nicht nur für kinder, träumen ist für alle.
ich treffe eine wahl. ich wähle meine träume. ich öffne meine augen, beobachte, was wirklich abgeht, so dass ich bewusst entscheiden kann, was ich aus jeder einzelnen situation machen will. ich lerne, nein zu sagen. ich entscheide mich für dinge, die sich für mich richtig anfühlen, und vertraue darauf, dass dieser hauch, dieser schimmer aus meiner traumwelt mich auf meinem weg leiten wird.
nach einer weile merke ich, dass ich kraft schöpfe. ich fühle mich nicht mehr hilflos, das leben passiert mir nicht mehr einfach, ich nehme mein schicksal selbst in die hand. ich erkenne, dass ich für mich selbst eintreten und mich schützen kann. durch die macht der wahl beweise ich mir selbst, dass ich einfluss auf mein leben habe. ich bin nicht mehr nur eine marionette meines lebens, sondern habe die macht, eigene schritte zu unternehmen, und diese schritte haben auswirkungen auf meine aussenwelt. ich bin frei, frei, selbst zu entscheiden. frei, mich nicht mit dingen abzufinden. frei, den status quo nicht zu akzeptieren. frei, meinen platz in der gesellschaft nicht zu kennen.
ich setze meine träume in die realität um, und die realität ändert sich. ich träume nicht mehr nur davon, sondern tue es tatsächlich.
ich spüre, wie ich zu vibrieren, mich für das leben zu begeistern beginne. es kann die kleinste sache sein. aber ich muss meinen träumen bis ins kleinste detail folgen, egal wie lächerlich sie erscheinen, sie dürfen nicht verändert werden, damit sie "mehr sinn ergeben". wie auch immer ich es mir vorgestellt habe, genau so muss ich es tun. ich erträume mir mein leben, scheinbar aus dem nichts, geboren aus meinem reinsten selbst.
und dann gehe ich hinaus und erschaffe, was ich gesehen habe. nach einer weile schaue ich mich in meiner neuen welt um, und traue meinen augen nicht. die schönheit ist atemberaubend, meine seele singt ab der magie, die ich sehe. und niemand anderes als ich selbst bin für diese welt verantwortlich. ich habe von ihr geträumt und sie dann erschaffen. und jetzt weiss ich, dass ich niemals wieder mit dem träumen und in-die-realität-umsetzen aufhören werde.
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