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  • AutorenbildAnnina Louise Krüttli

zurück zu deinem wilden sein

hast du je einen ort gesehen, wo kein mensch einen bleibenden eindruck hinterlassen hat? wo die flüsse sich ihren eigenen weg bahnen und die bäume dort wachsen, wo es stimmt, und die büsche die landschaft formen und die insekten und die bieber und die adler und die bären ihr zuhause finden? oder wo es so karg und rau ist, dass die menschen nie mehr als vorübergehende besucher sein werden? einen ort, der wirklich wild ist?


ich liebe es, in der wildnis zu sein. es berührt einen ort tief in meiner seele, spricht zu meinen verstecktesten sehnsüchten, zu den wurzeln meines seins. in diesem schmelztiegel, wo herausforderung, angst, gefahr und können zu purem potential verschmelzen, werde ich lebendig. an den orten, wo es zwar schwierig ist, zu verstehen, wie, aber das leben, allen widrigkeiten zum trotz, einen weg findet, um zu überleben. aber auch an den orten, wo das leben so üppig und unberührt gedeiht, dass chaos zu schönheit wird. auf dem gipfel eines hohen berges. auf ski zwischen schieren felswänden. auf einem mountainbike, in einer steilen geröllhalde. oder wandernd in einem urwald, wo menschen nie einen fuss hingesetzt haben, ausser auf ein paar uralten pfaden.


sich in solche gefilde vorzuwagen bedarf guter vorbereitung. wenn man einfach mal aus einer laune heraus geht, kann es gut sein, dass man sich in grosser gefahr wiederfindet, auch wenn es gar nicht gefährlich aussieht. beim erkunden der wildnis mit ski, zum beispiel, ist die abschätzung des lawinenrisikos ein grosser sicherheitsfaktor. als ich mich neu mit freeride skifahren befasste, wusste ich sehr wenig darüber. ich hatte ein paar bücher gelesen, aber abgesehen von ein paar tagen mit meinem vater als kind, fehlte mir das können, das handwerk, um zu beurteilen, zu entscheiden, und zu wissen, wie vorzugehen. viele jahre später habe ich mich mit steilheit, exposition, sonne, wind, schnee, temperatur, höhenlage und menschlichen faktoren auseinandergesetzt, viele tage damit verbracht, erfahrene experten zu begleiten und von ihnen zu lernen, habe diskutiert, hinterfragt und analysiert.

aber die wichtigste lektion, die ich gelernt habe, ist, dass es, trotz alledem, unmöglich ist zu wissen. es ist oft sogar gefährlich, zu meinen, man wisse. die wildnis kann nicht kontrolliert, geplant oder vorhergesagt werden. wenn man meint, man wisse, verliert man die verbindung zum feingefühl, man hört auf, auf die wahrnehmung zu hören, man verpasst die kleinen fetzen an information, die so subtil sind, dass nur die intuition sie aufgreifen kann. stattdessen muss man präsent sein, hier und jetzt, unabhängig von in der vergangenheit formulierten glaubenssätzen, die einem vermitteln wollen, man wisse, was vor sich geht. und so bedeutet, sich auf die wildnis vorzubereiten, auf merkwürdige art und weise, sich darauf vorzubereiten, unvorbereitet zu sein. man muss lernen, sich wohl zu fühlen mit dem wissen, dass man nicht weiss. damit, dass man die ganze vorbereitung in jedem moment neu abwägen muss, weil man nie wissen kann, was auf einen zukommen wird. die einzige konstante in der wildnis ist die ständige notwendigkeit der flexiblen anpassung an sich fortlaufend verändernde bedingungen.

je mehr ich mich solchen situationen aussetze, desto mehr bewundere ich die fähigkeit unserer körper, unserer instinkte, mit allem umzugehen, was die wildnis bereithalten mag. die menschliche natur ist ausserordentlich geschickt darin, sich zu retten, zu überleben. aber wir müssen es zulassen. wenn der verstand versucht, kontrolle zu haben, zu organisieren, zu lösen, zu urteilen, zu leisten, oder anzugeben, kann unsere natur ihr ding nicht durchziehen. unsere urinstinkte brauchen ruhe, insbesondere im geist, um ihre arbeit zu tun.


was sich dann offenbart ist das, was intuition genannt wird. intuition ist das, was hervorkommt, wenn das geplapper ausklingt. sie kann leise wie fallender schnee, oder dröhnend laut wie das echo von donner zwischen felswänden sein, aber ihre botschaft ist immer reinste weisheit.

und so hat das wiederverbinden mit der natur mir die augen geöffnet für die fundamentalste wahrheit des lebens: alles kommt und geht, fliesst und verebbt, blüht und welkt. kein tag ist gleich, und nichts ist für immer. es ist dieser ständige wandel, der das feine zusammenspiel zwischen allen teilen der beseelten welt hervorbringt, der wahre schönheit ins leben ruft. diese dinge können nicht durch sortieren, räumen, organisieren, planen, sichern, kontrollieren gefunden werden. solche beschäftigungen des rationalen verstandes mögen annehmlichkeit und sicherheit bieten, aber man bleibt schlecht gerüstet für die einzig wahre konstante im leben: den wandel.

aus genau diesem grund bedingt ein auseinandersetzen mit den wilden, ungezähmten, unzivilisierten teilen der welt ganz andere fähigkeiten, als jene, in denen die meisten von uns ausgebildet werden. in der wildnis kann man nicht überleben, indem man mechanisch regeln umsetzt, die man in der vergangenheit auswändig gelernt hat, oder indem man das tut, was man zu tun gewohnt ist. man muss präsent sein mit dem, was jetzt gerade passiert, über bisherige grenzen hinausdenken, kreative lösungen finden.

man muss verantwortung für sich selbst und die persönlichen entscheidungen übernehmen. man muss die eigenen grenzen wahrnehmen, den moment, in dem die intuition kippt und man sich in der situation nicht mehr wohl fühlt. zu bemerken, dass die eigene integrität sich in echter gefahr befindet und ein ausweg dringend nötig ist, ist ein viszerales, durch mark und bein gehendes gefühl. aber wenn man es einmal gefühlt hat, wird man es immer wiedererkennen. und man wird es respektieren, und sicher stellen, dass es von den menschen rundherum respektiert wird, denn in der wildnis steht alles auf dem spiel. man hat keine firma oder korporation hinter sich, die die verantwortung für schlechte entscheidungen übernimmt, oder sicherheitsnetze in der form von versicherungen und sozialsystemen, die einen auffangen. im gegensatz zur geschäftswelt kann man, wenn man über dem eigenen können ski fährt, weil man angst davor hat, sein gesicht zu verlieren, wenn man zugeben würde, dass der hügel steiler ist, als einem wohl ist, sich ziemlich einfach viel mehr als finanziellen schaden zufügen.


wenn du von der wildnis auf diese art und weise demaskiert wurdest, sickert dieses neue bewusstsein in alle lebensbereiche hinein. du kannst dann nicht mehr zurück zur halbherzigkeit. denn wenn du dich der wildnis aussetzt, wirst du zurückgeführt, zurück zu deiner wahren natur. du wirst in dich hineingeführt, unter die schichten schützender panzer, die du dir über die jahre zugelegt hast, zu deinem rohen, authentischen, wahren selbst, ob dir gefällt, was du vorfindest, oder nicht. du wirst zurückgeführt zu deinem wilden sein.


egal wo du bist oder was du machst, wild wird zu deiner neuen lebensweise. von nun an lebst du von innen heraus. du stehst ein für die wahrheit. du folgst nicht länger der herde, sagst nicht länger ja, nur um den frieden zu wahren. du schmeckst, riechst, fühlst, siehst gestochen scharf. du liebst, weinst, singst, tanzt und wirst überwältigt von trauer. du fällst öfter, als du zählen kannst. du fliegst in die himmel der freude, während du es nicht schaffst, den blick von den abgründen der verzweiflung abzuwenden. aber du hälst die spannung aus, ohne daran zu zerbrechen.


denn tief im herzen weist du, dass du unwidderruflich ein teil dieses universums, dieser welt, dieses gewebes, dieser unerbittlichen, unverfrorenen fülle von leben bist. du weisst, dass du, trotz allem, nur etwas bist.


wild.

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